Der Energiecharta-Vertrag
1. Was ist der Energiecharta-Vertrag?
Der Energiecharta-Vertrag ist ein internationaler Vertrag, der speziell den Energiesektor abdeckt. Er wurde 1994 zwischen insgesamt 51 Staaten in Europa und Asien abgeschlossen.
Der Energiecharta-Vertrag enthält einerseits ein Handelsabkommen, andererseits aber auch ein multilaterales Investitionsschutzabkommen. In der Praxis ist alleine das im Vertrag enthaltene Investitionsschutzabkommen von Bedeutung, weshalb dieses Kurzgutachten nur dieses näher beleuchten wird.
2. Was ist ein Investitionsschutzabkommen?
Staaten schließen Investitionsschutzabkommen, um Investitionen aus dem Ausland anzuziehen.
Wenn Investor:innen aus Staat A in Staat B investieren und dort ein Atomkraftwerk bauen, dann tragen die Investor:innen aus Staat A das Risiko, dass Staat B das Atomkraftwerk per Gesetz stilllegt. Dieses wirtschaftliche Risiko kann Investor:innen davon abhalten, das Kraftwerk zu errichten.
Wenn Staat B aber auf Investitionen aus Staat A angewiesen ist, um beispielsweise das Wirtschaftswachstum anzukurbeln, so könnten Staat B zusichern, ausländische Investitionen nicht durch Stilllegungen (oder vergleichbare Maßnahmen) zu behelligen. Für den Fall, dass eine gesetzliche Stilllegung doch beschlossen wird, kann abgemacht werden, dass eine Entschädigung zu zahlen ist, die dem Marktpreis der Investition entspricht.
In der Praxis werden solche Verträge vielfach geschlossen und betreffen nicht nur Stilllegungen, sondern alle möglichen regulativen Veränderungen, die den Wert einer Investition schmälern könnten. So könnten beispielweise Investor:innen aus Staat A, die in Staat B Windräder errichtet haben, Staat B verklagen, wenn Staat B die Einspeisetarife für Windenergie reduziert, nachdem die Windräder bereits gebaut wurden. Denn durch die Reduzierung der Einspeisetarife verringert sich der Marktwert der Windräder.
Ein solches Investitionsschutzabkommen, das Investor:innen vor regulativen Veränderungen und anderen investitionsschädigenden Handlungen des Gaststaates schützt, ist im Energiecharta-Vertrag enthalten. Die teilnehmenden Staaten sichern sich in dem Vertrag zu, die aus anderen Vertragsstaaten herrührenden Investitionen nicht durch Gesetzesänderungen zu beeinträchtigen.
3. Was sind internationale Schiedsgerichte und warum sind sie im Zusammenhang mit Investitionsschutzverträgen von Bedeutung?
Wenn Investor:innen einen Staat wegen Beeinträchtigungen auf Zahlung einer Entschädigung verklagen, stellt sich die Frage, wer den Konflikt entscheiden soll. Die Investor:innen wird die Sorge umtreiben, dass die Gerichte des Gaststaates nicht objektiv entscheiden. Um diese Vorbehalte auszuräumen, sehen die meisten Investitionsschutzabkommen für Investor:innen ein Klagerecht vor einem internationalen Schiedsgericht vor (sog. Investor-state dispute settlement = ISDS).
Diese Schiedsgerichte bestehen in aller Regel aus drei Richter:innen, die in aller von den Investor:innen und dem Gaststaat nominiert werden.
So ist es auch beim Energiecharta-Vertrag, der im Falle von Konflikten zwischen Investor:innen und Staaten eine Entscheidung durch ein internationales Schiedsgericht vorsieht.
4. Welche Regelungen trifft der Energiecharta-Vertrag?
Zentrales Anliegen des Energiecharta-Vertrages ist der Investitionsschutz im Energiesektor. Die geschützten Investitionen umfassen daher sämtliche „Wirtschaftstätigkeiten im Energiebereich“.
Dabei sichert der Energiecharta-Vertrag Investor:innen aus Vertragsstaaten zu, dass sie (1) vor Enteignung[1] geschützt sind, dass sie außerdem (2) mindestens so gut wie einheimische Investor:innen behandelt werden und dass sie (3) fair und gerecht behandelt werden. In dem Fall, dass der Gaststaat eine dieser Pflichten verletzt, ist er zur Zahlung von Schadensersatz verpflichtet.
Schiedsgerichtliche Entscheidungen haben keine Bindungswirkung für Folgeverfahren; es fehlt an einer systematischen und aussagekräftigen Rechtsprechung, wie es sie im nationalen Recht gibt. Der Entscheidungsmaßstab bleibt deshalb auch für Jurist:innen oft ungewiss und Urteile in schiedsgerichtlichen Verfahren sind schwer zu antizipieren. Trotzdem bietet die bisherige schiedsgerichtliche Praxis immer noch den besten Einblick in die Mechanismen des Investitionsschutzrechtes. Will man den Ausgang eines schiedsgerichtlichen Verfahrens zumindest annäherungsweise absehen, muss deshalb die Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen in den Blick genommen werden.
5. Welche Verfahren zeitigt die Energiecharta?
Die Zahl der schiedsgerichtlichen Verfahren im Kontext der des Energiecharta-Vertrages nimmt stetig zu. Gab es von 1998 bis 2012 im Durchschnitt 2,4 Fälle im Jahr, waren es 2013 bis 2015 durchschnittlich 15,8 Fälle pro Jahr.
Hierzu gehören das bekannte und weiter anhängige Vattenfall-Verfahren gegen Deutschland nach dem beschleunigten deutschen Atomausstieg des Jahres 2011, aber auch eine große Zahl von Verfahren, mit denen sich Investor:innen aus anderen EU-Mitgliedstaaten gegen die teils rückwirkend verhängten Kürzungen der Förderung für erneuerbare Energien durch Spanien, Italien und Tschechien wenden. In diesen Fällen wurde der ursprünglich vorgesehenen Einspeisetarif für erneuerbare Energien nachträglich reduziert.
6. Sollten sich Klimaaktivist:innen für die Kündigung des Energiecharta-Vertrages einsetzen?
Diese Frage ist in einem juristischen Gutachten nicht klar zu beantworten. Investitionsschutzabkommen können den Erzeugern konventioneller wie erneuerbarer Energien gleichermaßen zugute kommen
Beispielweise könnten etablierte Industrien den Investitionsschutz des Energiecharta-Vertrages nutzen, um Regierungsmaßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und zur Reduzierung der Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen anzufechten. Das Vattenfall-Verfahren gegen Deutschland wegen Umweltauflagen beim Bau des Kohlekraftwerks Hamburg-Moorburg ist hier ein treffendes Beispiel. Das bloße Potenzial von Schadensersatzklagen könnte die Bundesregierung davon abhalten, Maßnahmen gegen den Klimawandel zu ergreifen, wenn diese den Ertrag bereits getätigter Investitionen in fossile Energieerzeugung schmälern. Dies verfestigt die Energiepolitik vergangener Tage und beeinträchtigt deshalb die Fähigkeit der Bundesregierung, eine effektive Politik für erneuerbare Energien zu betreiben. Andersherum könnte der Investitionsschutz des Energiecharta-Vertrages eine Wende hin zu erneuerbaren Energien unterstützen, indem das Risiko für Investitionen in erneuerbare Energien, das von regulativer Veränderung ausgeht, minimiert wird. Die Folge wäre, dass Investitionen in erneuerbare Energien attraktiver würden und so die Energiewende unterstützt wird. Jüngst betreffen besonders viele Schiedsverfahren die Reduzierung von Subventionen für erneuerbare Energien. Es klagen also beispielsweise Investor:innen, die Windräder gebaut haben, weil anschließend der Einspeisetarif für Windenergie gesenkt wird. Oberflächlich betrachtet scheint es, dass der Investitionsschutz hier einen politischen Kurs zugunsten erneuerbarer Energien verfestigt und dass die Befürworter einer Energiewende diese Entwicklung begrüßen sollten.
Generell bestehen in Bezug auf die Folgen von Investitionsschutzabkommen einige Zweifel:
Zum einen ist unklar, ob Investitionsschutzabkommen überhaupt zusätzliche Investitionen zeitigen. Empirische Untersuchungen haben auf die Frage, ob Investitionsschutzabkommen zu mehr Investitionen führen, keine eindeutige Antwort geliefert.
Der positive Effekt für Investitionen in erneuerbare Energien könnte außerdem dadurch relativiert werden, dass Regierungen sich vorsehen, neue Subventionen zu verabschieden, wenn sie diese anschließend nur unter Auslösung einer „Klagewelle“ wieder zurücknehmen können. Außerdem ist Geld, das für nicht länger notwendige Subventionen für erneuerbare Energien ausgegeben wird, an anderer Stelle nicht verfügbar. Das „Einfrieren“ von finanziellen Anreizen mit den Mitteln des Investitionsschutzes könnte die Förderung erneuerbarer Energien deshalb ineffizienter machen.
Es stellt sich daher prinzipiell die Frage, warum man mit dem Instrument des Investitionsschutzes arbeitet, wenn dieses in seinen Folgen so große Unwägbarkeiten mit sich bringt. Nach meiner Einschätzung ließe sich mit gezielter Förderung in Form von Subventionen mehr für erneuerbare Energien bewerkstelligen als mit einem pauschal für alle Industrien geltenden Investitionsschutzabkommen. Zwar minimiert der Investitionsschutz auch bei den erneuerbaren Energien das von regulativen Veränderungen ausgehende Risiko für Investor:innen. Vor generell überspannten regulativen Anforderungen an beispielsweise die Windkraft schützt aber auch der Investitionsschutz nicht, da dieser kein regulatives Niveau vorgibt, sondern lediglich an regulative Veränderungen anknüpft, die während der Umsetzung einer Investition auftreten.
Allerdings ist eine Bewertung der Folgen des Energiecharta-Vertrages im Hinblick auf den Klimawandel keine Aufgabe, für die ein (angehender) Jurist besonders gut geeignet wäre. Umweltökonomen sind besser in der Lage zum Gesamteffekt des Energiecharta-Vertrages fundierte Aussagen zu treffen.
[1] Enteignung meint in der Terminologie des Vertrages auch andere regulative Veränderungen, die den Wert einer Investition schmälern.
Quellen
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Rivkin, David (2015). “COP21: Climate Change Related Disputes: A Role for International Arbitration and ADR,” 7 December 2015, http://isdsblog.com/wp-content/uploads/sites/2/2015/12/David-W-Rivkin-speech-Climate_change_arbitration.pdf
Sussman, Edna (2011). “The Energy Charter Treaty’s Investor Protection Provisions: Potential to Foster Solutions to Global Warming and Promote Sustainable Development,” in Marie-Claire Cordonier-Segger, Markus W. Gehring, and Andrew Newcombe, eds., Sustainable Development in World Investment Law (Alphen an den Rijn: Kluwer Law International, 2011), 513–532.
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Umweltinstitut München e.V., Dossier Energiecharte (2017). Verfügbar hier: http://www.umweltinstitut.org/fileadmin/Mediapool/Downloads/01_Themen/02_Energie-und-Klima/Energiecharta/Dossier_Energiecharta_web_small.pdf
Wissenschaftlicher Dienst des Bundestages, Klagemöglichkeiten von Energiekonzernen im Rahmen internationaler Investitionsschutzverträge, 2009.
Sicherlich lesenswert, wenn man die Beziehung zwischen Investitionsschutz und Klimaschutz besser verstehen will:
Tienhaara, K. (2009). The expropriation of environmental governance: Protecting foreign investors at the expense of public policy. Cambridge: Cambridge University Press.
Speziell zu der Frage, ob Investitionsschutzabkommen tatsächlich zu mehr Investitionen führen:
Aisbett, Emma; Busse, Matthias; Nunnenkamp, Peter (2016): Bilateral investment treaties do work: Until they don't, Kiel Institute for the World Economy (IfW), Kiel Working Paper, No. 2021. Available at: http://hdl.handle.net/10419/125937
Berger, A., Busse, M., Nunnenkamp, P., & Roy, M. (2013). Do trade and investment agreements lead to more FDI? Accounting for key provisions inside the Black Box. International Economics and Economic Policy 10, 247-75.
Bonnitcha, J. (2017). Assessing the Impacts of Investment Treaties: Overview of the evidence. IISD Report. Available here: https://www.iisd.org/system/files/publications/assessing-impacts-investment-treaties.pdf
Bonnitcha, J. (2016). Foreign investment, development and governance: What international investment law can learn from the empirical literature on investment. Journal of International Dispute Settlement 7, 31–54.
Busse, M., Königer, J., & Nunnenkamp, P. (2010). FDI promotion through bilateral investment treaties: More than a BIT? Review of World Economics 146, 147–77.
Colen, L., Persyn, D., & Guariso, A. (2016). Bilateral investment treaties and FDI: Does the sector matter? World Development 83, 193–206.
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